Kogda tvoja devushka bolna… höre ich Wiktor Zoj singen, in meinem Kopf, während K. mit den Töpfen klappert. Zum Glück ist sie, anders als die Freundin im Lied, nicht mehr krank, dafür nun ich. Sitze in der Küche am Computer. Die Heizung poltert leise an und aus, das ewig kaputte Ding. Fällt mir schon gar nicht mehr auf. Ich habe Schmerzen im Kiefer – ich bin ein Nagetier, bin viele Tierchen, die an mir nagen, die Substanz Nacht für Nacht wegkauen, Druck machen im Schädel. Dazu namenlose kalte Wut im Herzen. Die Heizung wieder. Das Wasser im Topf flüstert vor sich hin. Was hat es mir zu sagen, dieses Gefühl?
K. war rausgegangen, kommt nun rein, fragt: Wie heißt das, wenn man Leute dazu bringt, irgendwo reinzugehen? Ich: Scheuchen. Hineinscheuchen. Eigentlich denkt man an kleinere Tiere, Hühner, man erschreckt sie, dann gehen sie dahin, wo man sie haben will. Sie: Kann man das auch für Menschen verwenden? Ich: Ja, aber wenn es um brutaleres Vorgehen geht, dann ist „hineinjagen“ besser. K. übersetzt ein Interview mit dem letzten Sobibor-Überlebenden Semjon Rosenfeld. Solche Gespräche haben wir hier. Und ist das gut oder schlecht, frage ich mich. Es ist notwendig, immer noch notwendig.
Am Samstagabend habe ich das Radiofeature „Horchposten 1941 – ja slyshu wojnu“ des DLF gehört. Es ging um die Blockade von Leningrad, aber auch allgemein um den „Vernichtungskrieg im Osten.“ Mir ging es körperlich zwar nicht gut (und nur wen ich nicht lesen kann, höre ich Hörspiele) aber ich konnte nicht aufhören. Am Ende habe ich weinen müssen, hätte ich weinen müssen. Aber wie immer, stieg mir nur etwas Wasser ins Auge. Obwohl so viel geweint werden müsste.
Im letzten verlesenen Tagebuchzitat, notiert im besetzten Berlin, Anfang Mai 1945, ist der deutsche Umgang nach ’45 mit dem Thema Kriegsgräuel bereits perfekt enthalten: Zwei sowjetische Soldaten zu Besuch bei zwei Deutschen Frauen in der Wohnung. Alles zivilisiert, die Rotarmisten haben sogar Schokolade mitgebracht. Eine Bekannte der Hausherrin dolmetscht (sie ist die Chronistin). Die Frauen spekulieren angesichts der allgegenwärtigen Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten vorsichtig: dass wohl auch Deutsche in der UdSSR Gräueltaten verübt haben müssen. Der jüngere der beiden Soldaten berichtet, er habe zwei Male mit angesehen, wie Deutsche in russischen Dörfern Kinder ermordeten. Sofort die Frage, wo die Täter denn den „Vogel“ (Reichsadler) gehabt hätten – an Ärmel oder Mütze? Wehrmacht oder SS? Es stellt sich heraus, dass es SS war. Aufatmen bei der Hausherrin. Ihr Mann sei auch ganz unfähig zu solchen Grausamkeiten… Die Übersetzerin denkt sich ihren Teil.
Die weiße Weste der Wehrmacht. Längst widerlegt, es gibt genug Zeugnisse, dass die menschenverachtende Lebensraum-Ostpolitik („Generalplan Ost“) von der Wehrmachtführung mitgetragen wurde und das Aushungern der Zivilbevölkerung und grausame Racheaktionen nach Partisanenangriffen von den meisten Wehrmachtoffizieren mitgetragen wurden, auch von vermeintlichen Lichtgestalten wie Stauffenberg. Aber die Weiße-Weste-These findet wieder ihre Anhänger. Und Opa war kein Nazi.
Was will es mir sagen, dieses Gefühl?