Der Osten – Teil 3

Lese das Buch des amerikanischen Historikers Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Wirklich spannend; es ist seine Dissertation über ein Gebiet, das im Ersten Weltkrieg unter deutscher militärischer Verwaltung stand, genannt „Ober Ost“. Es umfasste Teile Nordostpolens, Lettlands, Litauens und des heutigen Belarus. Ein kolonialer feuchter Traum des deutschen Generalstabs, vor allem Ludendorffs und Hindenburgs, die dort ein rigides Besatzungsregime führten. Die Erfahrungen dort prägten den Blick deutscher Soldaten und Verwaltungsleute auf den Osten in unmittelbarer Nachbarschaft Deutschlands und seiner Bevölkerung (und schlugen sich schließlich in der Ostpolitik der Nazis nieder). Parallel dazu punktuelle Lektüre von Die Deutschen und der Osten des unsäglichen Wolfgang Wippermann. Ich mag ihn nicht, er schreibt mir zu glatt. Erhoffe mir Hinweise, wie das Thema, diese ganze Himmelsrichtung, der „Osten“ in unserer Kultur konnotiert ist. Und wie insbesondere die historische Dimension des Verhältnisses zur slawischen Welt aussieht.

Stasiuks Der Osten ist mehr mein Ding. (Irgendwer beim Verlag meinte, das Label „Roman“ draufkleben zu müssen. Gemeint ist: „nicht 100% autobiographisch“. Trotzdem ärgerlich.) Weil es um persönliche Erinnerungen geht. Um Meditationen. Wie der Erzähler da so durch das Weichselgebiet, südlich und östlich von Warschau fährt und über die Kraft des Wassers und der Zeit reflektiert. Besonders beeindruckt hat mich die Beschreibung des Himmels, ein Sonnenaufgang vermutlich – wie der Himmel im Osten glüht, in Flammen zu stehen scheint – elektrisch, fast unheilvoll, wie der Wiederschein einer gewaltigen Feuersbrunst. „Wie das andere Ufer in violetten Streifen flimmert“ dagegen bei Stasiuk. Was mich daran erinnert, dass ich dort auch entlang gefahren bin, womöglich auf derselben Straße, jedenfalls aber erst diesen September, im Reisebus auf dem Weg nach Lublin. Und wie ich dort ebenfalls während der Fahrt den Himmel im Westen, über dem anderen Weichselufer, betrachtete. Die Silhouette eines Kraftwerks, zwischen Puławy und Warschau. Rast an einer Tankstelle, Pinkeln am herbstlichen Waldrand. Die Luft herbstlich kalt, der Jahrhundertsommer war zu Ende. Von den weiter entfernten sanften Hügeln waren Schüsse oder ein Feuerwerk zu hören. Die Mitreisenden in kleinen Gruppen auf dem Asphalt des Rasthofs beieinander stehend, Kaffee trinkend.

Und wir fuhren weiter, rollten durch kleine Ortschaften, immer wieder durch Kreisverkehre und durch diese Straßendörfer, die in Polen nichts Besonderes sind: rechts und links Häuser, die von wetterergrauten Lattenzäunen umgeben sind, davor etwas Gras, in dem Hühner scharren. Ein paar Obstbäume, dahinter ein Stück Land. Doch bei ihrem Anblick, bei der Fahrt durch die ebene, nach Osten leicht gewellte Flusslandschaft erfasste mich ein Glücksgefühl, das vielleicht etwas mit dem Gefühl des Fahrens, mit der Geschwindigkeit des Busses zu tun hatte, oder mit der Tatsache, dass wieder einmal Jurek ihn lenkte und ich mit Gleichgesinnten unterwegs war, nach Lublin, wenn auch letztlich unsere Ziele Bełżec, Treblinka und Sobibór waren. Vor allem aber hatte es etwas damit zu tun, dass ich wieder im fremden, und doch allmählich vertrauten Osten war.

Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, dass der Anblick solcher Dörfer in meinem Hirn jetzt wohl mit Urlaub, Freiheit und Sommer verknüpft war –  mit Erinnerungen an die vorangegangene Radtour, an die Ebene und die Wälder im östlichen Masowien, mit den Weilern in Polesien oder der Suwalszczyzna. Und ich erinnere mich, wie ich im dahinfahrenden Bus saß – rechts der dramatisch illuminierte Himmel über der unsichtbaren Weichsel, links die schon im Dämmerlicht daliegende Landschaft mit ihren Feldern, kleinen Wäldern, Hügeln und den gelegentlichen Dörfern – und versuchte, meine Eindrücke und die Gefühle, die sie hervorriefen, im Tagebuch festzuhalten. Vor allem aber war ich glücklich, in dieser Art, bei der sich Freude mit unerklärlicher Wehmut mischt.