Anton-Saefkow-Platz 1

Anton-Saefkow-Platz, Montag, 20. September 2020, 18:16 Uhr
Was ich hier mache, frage ich mich. Ich sitze hier auf dem Anton-Saefkow-Platz in Lichtenberg und schreibe, sauge die Atmosphäre auf und versuche gewissermaßen, mich treiben zu lassen, ohne großartig irgendetwas zu tun. Also nur zu sitzen und zu fokussieren auf das Geschehen, zum Beispiel auf das Rauschen des Brunnens, die länger werdenden Schatten auf den Fassaden der beiden Wohnhochhäuser gegenüber. Auf das gedämpfte Geräusch sprechender Menschen, das auf dem von verschieden hohen Gebäuden umschlossenen Platz hin und her geworfen wird, sich mit dem Rauschen des Brunnes, von Schritten, abrollenden Fahrradreifen auf Splitt und anderen Geräuschen mischt und so zu einem diffusen Murmeln wird. Ein Motorrad startet und entfernt sich.

Sitze hier nun schon eine Weile. Klar bin nicht zum allerersten Mal hier. Und klar habe ich schon auf dem Handy ein paar Fakten, zumindest über den historischen Ortsteil Fennpfuhl in dem ich mich hier befinde, abgecheckt. Geschichte ist wichtig. Was ich sehe, macht mir schon deutlich: der Platz, auf dem ich mich hier befinde. funktioniert. Als Platzanlage. Er ist lebendig – es gibt ja auch genug Geschäfte hier. Aber es wird auch gewissermaßen flaniert (auch wenn das womöglich ein Wort ist, das die Anwohner nicht verwenden würden). Aber es wirkt so. Auch wenn die Menschen, die vermutlich hier leben bloß zum Einkaufen gehen, oder zum Parkplatz, oder zur Eisdiele. (M. und ich waren vor paar Tagen schon hier und haben dort Softeis gegessen.) Das kann nicht jeder Platz, Menschen so aussehen zu lassen.


Ich sehe Frauen, die meist ein Kind im Schlepptau haben, manchen von den Kindern tragen Schultaschen. Ich sehe auch Männer mit Sporttaschen, Frauen mit Einkaufsbeuteln, Radfahrerinnen. Menschen unterschiedlichen Alters. Keiner macht einen irgendwie verwahrlosten Eindruck – als Westler verbindet man „Plattenbau“ ja meist mit „sozialem Brennpunkt“. Eben erst sah ich zwei kleine Jungs, für die war die grün gestrichene Wasserpumpe die Attraktion – ein Berliner Merkmal, das man eher in deinem der innenstadtnahen Gründerzeitviertel vermuten würde, aber nicht hier in der Großwohnsiedlung, hochgezogen aus dem märkischen Sand von 1972 bis 1986. Aber was weiß denn ich, ich verbringe den Großteil meines Berliner Lebens innenstadtnah. Für mich ist dieser Ort fremd, daher interessant. Das ist ein Grund dafür, warum ich heute hier bin.

Um die fünf kleinen Fontänen vor den Hochhäusern stehen Bänke und noch recht kleine Kirschbäume: so vor acht bis zehn Jahren, schätze ich, ist der Platz modernisiert worden. Die Plattenbauten, vermute ich, so vor 15-20 Jahren. – Und es ist wirklich schön hier, muss ich feststellen. Von Tristesse keine Spur. Mag sein, dass der Spätsommerabend mit seinen milden Temperaturen und dem sanften Licht eine Rolle spielt (aber ich werde dranbleiben, und den Platz auch im Herbst weiter besuchen). Es scheint,. als präsentiere sich der Ort bei meinem Besuch entwaffnend offen, gebe scheinbar alles von sich Preis, und als lege er dabei seinerzeit meine tief sitzenden Vorurteile über Wohnen und Leben im „Osten“ frei. Kann das hier wirklich so schön sein? Vielleicht hat man „nachgeholfen“, denke ich – klar, die nicht lange zurück liegende Platzmodernisierung, Quartiersmanagement, enorme Mittel aus dem Programm „Stadtumbau Ost“, über das ich gerade ein bisschen was nachgelesen habe. Könnte sein, aber könnte auch sein, dass es in dem Fall geklappt hat. (Danach müsste ich mal unsere Bekannte S. fragen, die für das Lichtenberger Bezirksamt arbeitet.)


Das also mache ich hier, ungefähr: Ich sitze hier und versuche schreibend etwas über diesen Ort herauszufinden. Aber es scheint, als fände ich dabei auch immer etwas über mich heraus. Heute also, in diesem Moment finde ich heraus, dass er ein Reservoir, ein Auffangbecken ist: ein offener Resonanzraum, in dem Geräusche, menschliche Stimmen, Vogelrufe, Schritte, Wasserrauschen sich ineinander verweben. Verkehrslärm ist nicht zu hören, oder fast nicht. Die Geräusche hier sind ähnlich wie in einem der Gründerzeit-Innenhöfe im Zentrum, die ich so gut kenne – nur, dass alles größer ist, die umstehenden Häuser, und auch das Geräuschvolumen, dass sich zwischen ihnen sammelt. Und das alles ermöglich eine Architektur, die dem Platz seine Form gibt und mit deren Gestaltung und Zweckbestimmung, nämlich Menschen zu behausen, ihnen eine Wohnung zu geben, ich mich noch gar nicht beschäftigt habe oder beschäftigen will. Denn heute ist ein Tag, des „Draußen“, ein Tag, an dem es sich gut über Plätze flanieren lässt. Ja, dieser Platz funktioniert.


Mal sehen, ob sich die von mir erwartete Tristesse noch zeigt. Bisher sehe ich einen Ort der Geschäftigkeit, der Begegnung, des Miteinanders. Menschen grüßen einander sogar. Mehrere Einkäufer wünschten der jungen, wirklich auch sehr netten männlichen Bedienung an der Kasse im „Norma“ einen schönen Feierabend. So freundlich kenne ich Berlin gar nicht, und hier hätte ich so etwas am allerwenigsten erwartet.

Ich sah Familien, einzelne Erwachsene zu Fuß und auf dem Rad, einzelne Kinder auf Fahrrädern., Männer, Frauen, Mädchen und Jungen. Europäisch aussehende und asiatisch aussehende Menschen. Junge und Alte. Hier kommen gerade zwei, gehen langsam an Plöttners Destille vorbei: ein Paar, weißhaarig beide und in pastellfarbenen Westen: ihre hellgrün, seine hellbraun. In Pastell, nämlich terrakottafarben, sind auch die Seitenwände der Plattenbauriegel gehalten, die den Platz gegen die Landsberger Alle abschließen. Und die tiefstehende Abendsonne taucht auch die weißen Fronten der beiden Punkthochhäuser in ein weiches Hellorange. Zeit für mich zu gehen. Zum Abschied zwinkere ich der goldfarbenen Statue des Gottes mit dem Elefantenkopf vor dem indischen Restaurant komplizenhaft zu: Ich komme wieder!