Das offizielle Gebäck des Ostens

Mittwoch, 7. Oktober 2020, 11:18 Uhr

Diesmal in „Plöttner’s“, pardon: „Plöttners Café“ – es gibt kein Deppen-s, auch wenn ich mich gefühlt im tiefsten Osten befinde. Wieder meine Konditionierungen. Sitze draußen vor den Café, in dem es leider keine fertig belegten Brötchen in der Auslage gibt. Kam hier nämlich hungrig an und musste dann rüber zu Steinecke, rein in die Kaufhalle. Also, den Supermarkt. Gar nicht einfach, ins Schreiben reinzufinden, wenn man schon was aus einer Serie veröffentlicht hat. Na ja, „veröffentlicht“ heißt lediglich, dass schon Texte online stehen – aber es weiß keiner davon. Schiebe das – also die Texte auf Facebook anzukündigen – natürlich wieder vor mir her. Aber so ist das. Bin eben auch und immer wieder mit meinem Schreiben und dem Schreiben-Vermeiden, beschäftigt. Statt es einfach geschehen zu lassen. Oder zu machen. Ist doch sowas wie ein Job. Nicht mehr und nicht weniger.

Zurück zum Anton-Saefkow-Platz. Verstehe jetzt auch unsere Freundin S. besser, die eine Weile in Lichtenberg gewohnt hat. Als sie damals in den Bezirk gezogen war, aus dem hippen Neuköllln immerhin, sagte sie: Ein lebendiger Bezirk mit vielen unterschiedlichen, normalen Leuten. Die Tatsache, dass anscheinend viele sie fragten (mich eingeschlossen): Lichtenberg? Mit dem Unterton: Echt jetzt? sagt hier wohl am meisten aus – nämlich über die Fragenden. Ich würde jetzt zustimmen: es mag in Lichtenberg zwar vordergründig überwiegend „weiß“ sein, aber nicht ausschließlich. Eben kamen zwei Frauen vorbei, eine im Rollstuhl, ihre Begleiterin mit Kopftuch. Sicher, man weiß nicht, wer von den beiden wirklich in der Nähe wohnt. Und ob nicht die Frau mit Kopftuch die unterbezahlte Pflegekraft mit Migrationshintergrund ist.

Aber wieder zurück auf Anfang. Am Nebentisch, das heißt zwei Tische weiter – ist ja Corona – sitzen zwei Frauen, ostberlinernd. Vielleicht Mutter und Tochter. Die jüngere ist hübsch, trägt einem roten Mantel und spricht mit noch heller Stimme, aber klingt bestimmt und sozusagen erwachsen. Die ältere, von der ich vermute, dass sie ihre Mutter ist, ist auch attraktiv, aber spricht leiser. Über irgendwelche Schlüssel. Vielleicht sind sie doch Kolleginnen, Lehrerinnen oder was Anderes aus dem pädagogischen Bereich. Leider sind sie recht schnell gegangen, nachdem ich mich hingesetzt hatte – sie hatten auch vorhin schon hier gesessen, als ich (wegen der Brötchen) zum ersten Mal hier war.

Der Himmel, vorher bewölkt, ist jetzt aufgerissen. Die Sonne schickt gerade für Momente ein paar wärmende Strahlenbündel auf den Platz. Es ist recht belebt. Eine Frau mit Rucksack schließt ein Fahrradschloss auf und schiebt ihr Hollandrad mit Kindersitz auf den Pfad, der sich zwischen den Häusern entlang schlängelt. Ein Handwerker schiebt eine Karre mit Zement- oder Gipssäcken an den Cafétischen vorbei. Ein Mann und eine ältere Frau nehmen am direkten Nebentisch Platz. Sie mit Rollator und weißen kurzen Haaren, er jünger, mit hellgrüner Kappe und Brille und in Jogginghosen. Sind diese beiden nun Mutter und Sohn? Oder warum denke ich immer, wenn Menschen unterschiedlicher Generationen zusammensitzen, dass sie Eltern und Kinder sind? Beim Ausfüllen des Corona-Zettels fällt dem Sohn das Datum auf: es ist der 7. Oktober, das Gründungsdatum der DDR. „Der einundsiebzigste Jahrestag wäre es gewesen“ sagt er. Lamentiert etwas über die Daten-Huberei anlässlich der Epidemie. Da hat er schon recht – sicher kann man nicht sein, dass die Bäckerei die über Wochen gesammelten Kontaktdaten wirklich zeitig vernichtet oder vernichten lässt.

Eine ganze Schar Spatzen eine einzelne Wespe interessieren sich für das süße Teilchen auf meinem Teller. (Neulich irgendwo gehört: „Schweineohr – das offizielle Gebäck des Ostens“.) Drüben am Nebentisch hüpft ein Spatz sogar auf den Teller der Frau und pickt am Keks, den sie hier zum Kaffee reichen. Die beiden sind belustigt. „Da haben sie dazugelernt“ sagt der Mann. Er erinnert sich an einen Besuch vor ein paar Monaten, da waren sie anscheinend noch nicht so krege. Kamen wohl schon recht nah ran, aber guckten nur. Zwei polnisch sprechende Damen haben sich an einen anderen, weiter entfernten Tisch gesetzt und Cappuccino bestellt. Vor die Sonne hat sich jetzt eine dunkle Wolke geschoben, der Wind ist aufgefrischt. Aber man kann noch gut draußen sitzen. Eine zweite Wespe hat sich zur ersten gesellt, zu zweit umkreisen sie meinen Teller. Ich stecke mir das letzte Stück Schweineohr in den Mund. Die beiden kreisen noch eine Weile im Suchflug um Teller und Tasse. Dann setzt sich eine auf den Teller und beginnt, ihn systematisch zu erkunden.

Am Nebentisch redet der Mann jetzt über Tauben, die er nicht so mag, und seinen früheren Job als Hausmeister. Er erwähnt die Zeit, in der er bei den Eltern wohnte – also ist die Dame wohl doch nicht seine Mutter. Weiter geht es um Küchenschaben, auf die er auch einmal bei einem Arbeitseinsatz in einem Hotel stieß. Die beiden Polinnen rauchen jetzt, das heißt, eine von beiden raucht. Extradünne Damenzigaretten. (Können wir ein Osteuropa-Klischee abhaken? Vielleicht.) Vor den Cafétischen hat sich eine Gruppe älterer Menschen aufgestellt. Warten sie auf jemanden? Sind sie aus dem Café gekommen? Innen war gut besetzt, an den Tischen wurde ausführlich gefrühstückt, und es war (wohl für eine Feierlichkeit) eingedeckt. Aber diese Leute waren mir nicht aufgefallen, als ich eben drin war. Schaut so aus, als seien sie mit irgendwas fertig. Sie verabschieden sich voneinander und gehen auseinander.

Drüben, an der Fassade des umgebauen, früheren Kaufhauses ein Graffito: „Defend Liebig 34“. Und ein eingekreistes A. Hat es dieses Thema, die Räumung des linken, queeren Hausprojekts, sogar bis hier geschafft. Aber warum auch nicht? Das Haus befindet sich nur wenige Kilometer von hier, und eine abgeschlossene Welt ist das Viertel hier am Fennpfuhl ja eben nicht. Auch wenn es mir wie eine andere Welt vorkommt. Typische Denke eines Innenstadtbewohners (West) halt: außerhalb des S-Bahnrings gleich „Plattenbau-Osten“, was immer das heißt, aber auf jeden Fall „janz wat anderet“ . So ein Quatsch. Zum Glück eben nicht. Das Thema „deutsche Einheit“ ist jetzt gerade dreißig Jahre alt geworden und wird womöglich überbewertet, aber Berlin ist Berlin. Will sagen: Gegensätze gibt’s zwar reichlich, zwischen Berlinern, aber die Stadt funktioniert doch als Waschtrommel oder Kaleidoskop: viele kleine bunte Teile purzeln umeinander. Die Gegensätze werden – in meiner Wahrnehmung – zwar an den Kiezen festgemacht, weniger an „Ost“ oder „West“. Oder ist es nur eine Frage der Perspektive? In meiner Wahrnehmung ist die Stadt eher durch den S-Bahnring geteilt als durch die ehemalige Grenze: innen viele Migranten, auch Lifestyle-Migranten (die beiden Gruppen haben meist miteinander gar nichts gemein, aber das ist ein anderes Thema), außen an der Peripherie ist man sich, ob Ost oder West, in vielen Fragen womöglich einiger als mancher denkt. Überhaupt sind so genannte „echte“, im Sinne von „weiße“ Berliner eher in Spandau, Ahrensfelde oder Hellersdorf zu finden als sonstwo.

Auf dem Platz, vor dem Eisladen, wiegen sich gelbe, langstielige Blumen im Wind. Die beiden Polinnen haben nur noch zwei Finger Milchschaum im Glas. Meine Tasse ist leer. Es sieht nach Regen raus. Schön war’s, aber Zeit zu gehen.