Donnerstag, 05. November 2020, Anton-Saefkow-Platz, 09.28 Uhr
Und natürlich: Stifte vergessen,. Noch dran gedacht, beim Rausgehen – ob ich nochmal schauen soll. Aber hab die Dose mit den Stiften ja meistens in der Tasche. Also heute: Fehlstart. War zwar um 09.15 Uhr hier, bin bisschen rumgelaufen und habe Kaffee geholt und im Netto was Süßes. Setze mich hin, vor den Softeis-Laden und merke: Verdammt, du hast keinen Stift dabei. Dauerte jetzt, bis ich einen besorgt hatte: der vietnamesisch geführte Kiosk hatte zwar Stifte für einen Euro, aber die schreiben nicht. Nach einmal zurückbringen hab ich aufgegeben. Wurde schließlich im Ein-Euro-Laden auf der anderen Seite der Landsberger Allee fündig, im „Castello“ genannten Wohnkomplex mit kleiner Einkaufspassage. Architekt unverkennbar: Hinrich Baller. Jugendstil-Formen, hinübergerettet ins späte 20. Jahrhundert. Der Mann muss nach der Wende ein Vermögen verdient haben, denn überall stehen große Wohnbauten aus der Nachwendezeit von ihm rum: Prenzlauer Promenade, Potsdam. Gähnende Leere im „Castello“, fast alle Läden geschlossen. Einerseits ist Corona (das Nagelstudio musste temporär schließen). Andererseits gibt’s wohl genügend Einkaufsmöglichkeiten hier, rund um den Saefkow-Platz.
Heute ist sogar Markt: Billigkleidung, Gemüseverkäufer, Fisch, und, klar: ein Würstchenstand, sowie Honig und Korbwaren. Der Korbverkäufer ziemlich schratig, klein, mit langen grauen Haaren und Walle-Bart. Wie eine Figur aus einem Märchen, ein etwas groß geratener Zwerg oder Gnom aus dem Wald. Grüßte aber sehr freundlich. Ist auch ganz gut besucht, der Markt. Die Migranten vom Gemüsestand trugen zwar keine Masken, die meisten der Kunden aber schon. Sitze jetzt in der Sonne in der kleinen Grünanlage, die sich etwa in Nord-Süd-Richtung an dem niedrigeren Gebäuderiegel entlangzieht, quer zur Landsberger. Neben mir ist der Kiosk. Ich hab, wie gesagt, den Stift nicht ein zweites Mal zurückgebracht. Hatte den ersten umgetauscht, im Laden schrieb der auch, aber hier , in der Kälte, dann nicht mehr. Einkäuferinnen und -käufer laufen die kleine Promenade, wenn man sie so nennen möchte, in beiden Richtungen entlang. Vor der Sparkassen-Filiale (deren Fenster übrigens mittlerweile ausgetauscht wurden) hatte sich soeben gar eine kleine Warteschlange aus vier, fünf Personen gebildet, alle übrigens vorbildlich mit Maske. Auch der kleine Fahrradladen hat geöffnet; durch die geöffnete Tür sah ich den Mechaniker an einem Rad rumschrauben. Vor dem Laden parkt ein schwarzes Bullitt-Lastenrad. Gefällt mir. Ein paar Meter entfernt hängen in einem Glaskasten Aushänge, was hier so los ist: dort wird eine „Offene Fahrradwerkstatt“ angekündigt, im „Haus der Generationen“ in der Paul-Junius-Straße. Also auch für passionierte Radler wie mich: alles vorhanden. Zumindest in normalen Zeiten.
Eine Frau in einem bunten Mantel geht vorbei. Ich glaube ein älteres Design von ZARA zu erkennen. Die meisten Leute hier sind überwiegend unauffällig und praktisch gekleidet, oder wenn nicht, dann auf jeden Fall in dunklen Tönen. In „gedeckten Farben“ wie man so sagt. Da freue ich mich, wenn ich jemanden sehe, der Farben mag. Soeben fiel mir auch eine andere, ältere Dame auf – ich bin sicher, dass sie Russin ist: im elegant geschnittenen dunklen Mantel, auf dem Kopf eine Baskenmütze und in schicken Schuhen, in denen sie allerdings wegen einer Gehbehinderung nur langsam hinter ihrem Hund herlaufen konnte. – Jetzt höre ich tatsächlich auch Russisch, von einem Mann, der gerade, sein Rad schiebend, mit zwei anderen Personen auf der Promenade vorbei ging. Da hatte er allerdings Deutsch gesprochen, mit Akzent zwar, aber schwer einzuordnen. Seine halb aufgerauchte Zigarette lässig wegschnippend geht er jetzt zum Kiosk rüber, wobei er noch etwas auf Deutsch – es kling twie „zwanzigtausend Leute“ – zu seinen Begleitern sagt. Redet er über die letzte Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland? Traurige Rekorde allenthalben. Und da kommt er auch schon wieder heraus, eine Bierflasche unter dem Arm, deren Verschluss er mit Gusto aufploppen lässt. Er spricht weiter auf Deutsch, denn die Frau aus der kleinen Gruppe scheint nur Deutsch zu verstehen. Sie sitzt unweit von mir auf einer Bank während die Männer stehen.
Da drüben, etwas versteckt in den Arkaden, die dem indischen Restaurant „Avtaar“ in besseren und wärmeren Zeiten als Terrasse dienen, habe ich eine Tafel entdeckt. Sie ist etwas schmutzig, als habe jemand Graffiti versucht, wegzuwischen. Sie erinnert an die Verleihung des „Architekturpreises der Hauptstadt der DDR“ an das Kollektiv um Dieter Rühle: für Planung und Gestaltung des Anton-Saefkow-Platzes. Ich finde: der Preis ist verdient. Man kann über Architektur und Gestaltung von Großwohnsiedlungen streiten, auch grundsätzlich über den autoritären Gestus, der (unabhängig vom politischen System) dahinter seht. Aber mir scheint: manchmal funktioniert sie auch. Außerdem sind die Großwohnsiedlungen nun mal in der Welt, das heißt: man muss das Beste aus diesen Gebäudetypen machen. Und hat man einst nicht auch die Berliner Wohnbauten der Gründerzeit allesamt als ausbeuterische, auf Profitmaximierung der Bauherren, sowie als für ihre armen Bewohner gesundheitsgefährdend gebrandmarkt – und mit ihr den gesamten wilhelminischen Historismus als serielle, eklektizistische Architektur verdammt? Für ersteres gab es viele gute Gründe, und die schlimmsten Mietskasernen, wie der berüchtigte „Meyers Hof“ in der Ackerstraße (sechs Hinterhöfe, 2.000 Menschen, 600 Wohnungen: beengt, dunkel, unzureichende Sanitäranlagen) existieren zum Glück schon lange nicht mehr. Aber: seit den Achtzigern und bis heute werden die, freilich gründlich umgebauten und sanierten Gründerzeitwohnungen in den früheren Arbeiterbezirken Berlins geliebt. (Leider wird oft vergessen, unter welchen Bedingungen frühere Bewohner hier lebten.) Es kommt eben drauf an, was man draus macht. Hier scheint mir vieles gelungen, was die Wohnungsbaugesellschaft, der die Gebäude gehören, nach der Wende mit öffentlichen Geldern verändert hat. Man müsste mal die Leute fragen, die seit Langem hier wohnen.