Am Rand

Samstag, 25. September 2020, 19:12 Uhr, Anton-Saefkow-Platz


Der pastellfarbene Himmel wäscht sich aus in ein fahles, mattes Grau, das sich allmählich auch über die Fassaden der Wohnblocks legt: es dämmert. Heute fange ich etwa zu der Zeit an, zu der ich vor ein paar Tagen zu beobachten aufgehört habe. Letztes Mal suchte ich ein wenig nach der Tristesse. Heute kann ich sie zumindest spüren. Ja, die Tageszeit ist eine andere, das Licht fehlt, die Wärme auch und ich sitze diesmal auch woanders: zwischen Bibliothek und Schwimmbad, zur Rechten habe ich den Parkplatz der gesamten Anlage, der etwas tiefer liegt. Vor mir also der Block, in dem die Bibliothek sich befindet, weiter rechts, hinter dem Parkplatz die Landsberger Allee, vielleicht 150 Meter entfernt. Habe mir soeben beim „Maxim Grill“, einem Pavillon auf dem Parkplatz, eine Pommes und ein Bier geholt.


A propos Bier – die Alkoholiker-Fraktion, die es hier durchaus gibt, sitzt ein Stück weiter links, auf Bänken und Beet-Einfassungen vor der Glasfront der Schwimmhalle. Ich hatte sie auf dem Platz beinahe vermisst, aber womöglich hat man die Bänke der Platzanlage strategisch so ungünstig für größere Gruppen angeordnet, oder sie sind so ungemütlich, dass die Jungs und Mädels dort nicht sitzen. Oder sie werden vertrieben – von Security weggeschickt. Was sein könnte, wenn der Platz der Wohnungsbaugesellschaft gehört. Müsste ich mal rausfinden.

Nahe dran an ihnen war ich nicht, als ich, noch im Hellen, soeben dort vorbei ging. Nur zwei Personen habe ich bemerkt, einen Mann, eine Frau. Beide mit großen Motiven auf Shirts oder Jacken – Metaller-Kutten, so in dem Stil. Der Mann trug einen dicken Bauch vor sich her und wirkte nicht besonders heruntergekommen. Also hier, an der Platzperipherie sitzen die Menschen „am Rande“ der Gesellschaft. Wobei – immerhin sind sie sich selbst Gesellschaft, bilden eine kleine Gruppe. Als ich auf dem Weg hierher den Fennpfuhl-Park mit dem Rad durchquerte sah ich einen einzelnen Mann, mit Tasche und Radio neben einer Bank am Ufer des kleinen Sees stehen. Er schaute mit leerem Blick um sich, in die Weite der Grünanlage, wirkte aber zugleich alarmiert. Sein Blick, seine Haltung verstörten mich; ich war froh, schnell an ihm vorbei fahren zu können. Nicht weil ich Angst vor ihm hatte, sondern weil mich seine Einsamkeit innerlich frösteln ließ. Ist das der Rand unserer Gesellschaft? Oder schon das Gebiet dahinter? Da sind die Alkis am Schwimmbad besser dran, sie haben einander, und ihr Bier. Sind noch wer, in den Augen ihrer Kumpels. Das Alleinsein dagegen zieht einen runter, macht einen von innen, vom Kopf her kaputt.


Ansonsten fällt mir erneut eher die Abwesenheit von Verwahrlosung und Armut auf – wie gesagt: Wessi-Konditionierung. Plattenbau gleich sozialer Brennpunkt. Aber ich war diesmal auch nicht im „Norma“ einkaufen sondern im Drogeriemarkt nebenan. Im Discounter waren mir beim vorherigen Besuch untersetzte ältere Männer mit schlecht rasierten Wangen aufgefallen, die abwägend vor dem eher schmalen Wurst-Angebot im Kühlregal standen. Natürlich ist das keine heile Welt hier. 
Ein Auto rollt unten vorbei, noch eines: etwas Verkehr unten am Parkplatzrand. Ein Mann wirkt Glas in den Glascontainer, danach schiebt er den Kinderwagen in dem seine Tochter sitzt, die Rampe hoch, hinauf zum Platz und zu mir. Hinten, jenseits vom Parkplatz, auf der Landsberger steht ein Wagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Polizei? Verkehrsbetriebe? Die GASAG? Man weiß es nicht.

Ein grauer Transporter hält unten vor der Treppe, zwei Männer steigen aus. Erst denke ich „Polizei“, vielleicht wegen ihres Ganges, dann denke ich „Handwerker“, denn der größere Mann trägt eindeutig eine Arbeitshose. Dann sehe ich, dass er eine Waffe an der Hüfte trägt. Aha, Security. Das erklärt den durchtrainierten Gang. Sie verschwinden im Eingang des Wohnblocks – oder in der Sparkassenfiliale nebenan? Ich habe es nicht gesehen. Ich stehe auf und gehe etwas näher ran. In der Sparkasse sind sie, deren große Fenster – das hatte ich eben gar nicht bemerkt – alle beschädigt sind: lange Risse durchziehen alle Scheiben. Man muss versucht haben, die Panzerglasscheiben mit einem Vorschlaghammer oder großen Stein einzuschlagen. Vermutlich hat man auch versucht, einen der Geldautomaten zu knacken. Mit „Handwerker“ lag ich also nicht ganz falsch, denn ich sehe, dass der eine der beiden ein Paneel eines der Automaten nach unten klappt. Vermutlich sind sie oder ist einer von beiden ein Techniker der Firma, die die Geldautomaten wartet und mit Bargeld befüllt. Vor der Sparkasse ist plötzlich ein dritter Security-Mann aufgetaucht ist – gehört er zu ihnen? Er hat ein rundes Gesicht und eine dickliche Figur. Wie wartend steht er unter einer Laterne und und telefoniert auf Russisch. Von „heiler Welt“ also himmelweit entfernt, der Saefkow-Platz. Na, was auch sonst. Ein normaler Ort in Berlin halt.


Ich kehre auf meinen Sitz zurück und beobachte weiter. Die beiden von eben kommen zurück, gehen wieder in Richtung Treppe. Auf einmal bleiben sie stehen, einer wendet sich halb um und zeigt hinter sich, zur Filiale. Dagegen machen Gestik und Körpersprache des anderen Mannes deutlich, dass er den Weg zur Treppe fortsetzen will. Diese langsame Choreographie vollführen sie für einige Momente; was sie sagen, bleibt für mich unverständlich. Schließlich setzen sie den Weg zum Transporter fort, steigen ein, starten den Motor und fahren davon. Der andere Security-Mann scheint noch vor der Bankfiliale zu stehen, aber ich sehe ihn von hier aus nicht mehr.


Zwei dunkelhaarige Mädchen, vielleicht acht und zehn Jahre, turnen vor mir am oberen Ende des Treppengeländers herum. Eines trägt Rollschuhe an den Füßen. Am oberen Treppenanbsatz steht ein rosafarbenes Fahrrad – gehört es dem anderen Mädchen? Sie sind lebhaft und sprechen in einer mir unbekannten Sprache miteinander. Das kleinere der beiden hängt noch am Handlauf, das größere (das mit den Rollschuhen) setzt sich auf das Fahrrad – es ist ihr zu klein – und fährt schnell in Richtung des Platzes davon. Das andere Mädchen rennt ihr nach. Was mache ich noch hier? Es wird Zeit zu gehen. 

Da ist der dickliche, russischsprachige Security-Mann wieder. Er geht vor dem Wohnblock auf und ab. Vielleicht muss er aufpassen, dass die angeknacksten Fenster der Sparkasse nicht vollends zu Bruch gehen. Was für ein Job. Doch auf einmal ist er auch weg: er ist die Treppe hinunter gegangen und das Dunkel des Parkplatzes hat ihn verschluckt. Ich nehme einen letzten Schluck aus der Flasche, packe meine Sachen und gehe auch.