Der Osten – Teil 2

Mit den Reisen nach Lublin fing es an. Angesichts der Renaissancearchitektur in der Altstadt begann mir zu dämmern, wie reichhaltig, vielfältig die historischen Verbindungen ins so genannte „Osteuropa“ sind, die aber (im Westen) kaum wahrgenommen und nicht wertgeschätzt werden. Und klar, ich wollte auch an „wilde“ Orte, an den Rand der Zivilisation – an die ukrainische Grenze, „wo Bauern noch mit Pferdewagen fahren.“ Das hatte mir ein alter Freund erzählt, der eine Polin geheiratet hatte, die Verwandtschaft in der Gegend hatte. Ich sah dies aber genau einmal in Ostpolen, und zwar bei meinem ersten Besuch im Jahr 2009 in Izbica. Damals war die Region für mich wirklich der letzte Außenposten Europas – und die polnisch-ukrainische Grenze wurde ja auch genau in jener Zeit EU-Außengrenze.

Dann lernte ich nicht ganz zwei Jahre später K. kennen und der exotische, elende, trashige „Wilde Osten“ begann im Besonderen in Gestalt der Ukraine und weiter gefasst als Raum der ehemaligen Sowjetunion Objekt meiner Fantasien zu werden. Dazu gehörte es auch, Fotografien von mosaik- und wandbildverzierten Bushäuschen auf Facebook mit dem „Like“-Daumen zu versehen und allgemein ein Faible für betonschwere Sowjetarchitektur. Grau und heruntergekommen dürfen, ja müssen die Bauwerke und Motive sein – der postsowjetische Raum ist nichts für Weicheier. Das ist der perverse Blick des Hipster-Kolonisators. Die reichlich selbstverliebte Inszenierung eines saturierten (West-) Deutschen als Osten-Versteher, als Connoisseur postsozialistischer Tristesse. Eine polnische Milchbar, die so aussieht, als wäre sie seit 1992 nicht renoviert worden? Perfekt, natürlich essen wir hier! Dazu gehört aber, wie bei allen bescheuerten Sammlern, mindestens ein Gegenüber, das genau so tickt. Bei mir ist das mein Freund M. Dabei geht es ums Posieren, um das Zeigen und den Austausch von Trophäen. Natürlich im beiläufigen Ton des Gentleman-Abenteurers. Schwanzvergleich eben, aber zivilisiert.

Wir Reisende kommen als Pilger und als Kolonisatoren. Wohnt dem Pilger etwas Kindliches, Unschuldiges, Naives inne, so ist dagegen der Eroberer, in seiner heutigen Schwundstufe genannt: „Tourist“, ein abgebrühter Geschäftemacher. Er will, dass sich der Weg lohnt, er möchte seine Erwartungen erfüllt bekommen, er hat schließlich bezahlt – durch seine Anreise, seine Belesenheit, seine Anteilnahme, seine Vorkenntnisse. Er ist im Innern von seiner Überlegenheit überzeugt, denkt er sei „weiter“, zivilisierter als die Einheimischen, die „Eingeborene“ zu nennen ihm gerade seine Zivilisiertheit verbietet. Er möchte sich unter sie mischen, er möchte glauben, er erlebe das Land so, wie sie es erleben, aber seine Anteilnahme ist falsch. Die gemachten Erfahrungen sind ihm letztlich nur Artefakte vorgeblich „teilnehmender“ Beobachtung, die er in Form von Instagram-Fotos, Texten oder Anekdoten mit nach Hause nimmt.

Und womöglich übervorteilt „die Fremde“ ihn, und das vermeintlich Typische oder Einzigartige aus dem Basar ist nur billiges Souvenir, touristische Massenware. Das ist die Schlimmstmögliche Demütigung, die er unter allen Umständen abzuwenden versucht. Darum macht er verzweifelte Schnappschüsse gerade von Bushäuschen, graffitibeschmierten Betonwänden oder Wohnsilos – #nofilter – und kauft gerade die kitschigste Ansichtskarte und verschickt sie. So kaschiert er die Unvereinbarkeit zwischen ihm und der Fremde hinter einer dicken Schicht Ironie. Er ignoriert mit aller Macht, dass er von der Erfahrungswelt seiner Beobachtungobjekte immer ausgeschlossen sein wird, solange er diese als Objekte ansieht. Da er dies aber nicht abstellen kann bleibt er letztlich immer vor der Grenze stehen. Er reist nicht einmal ein, dringt schon gar nicht in eine exotische Wildnis oder terra incognita vor. Bestenfalls zeichnet er eine Ansicht oder Karte von ihr. In der Ethnographie des Touristen ist der Kauf der extra-kitschigen Ansichtskarte ein Dokument dieser Ausweglosigkeit, eine Kapitulation.

Und der Pilger? Er strebt nach Höherem, nach Erlösung von der klaffenden Wunde der Unvereinbarkeit, der incongruity. Das Unerhörte, ob als Wunder oder als Skandal, zieht ihn in seinen Bann. Wenn der buntgekleidete Fremde seine Flöte spielt, folgt er mit verzücktem Lächeln. Ja, der Pilger verklärt die zu bereisende Region – sie ist ihm das Gelobte Land und tausend nur für ihn sichtbare Zeichen weisen ihm den Weg. Die Gefahren der Fremde schrecken ihn nicht, auch nicht die Gefahr der Lächerlichkeit. Vor ihr ist er durch Demut und ein Gottvertrauen gefeit, das beinahe schon Keckheit, und damit eine Narrentugend ist. Er weiß: Wer das Wunder sucht, wird das Wunder finden, denn dem Staunenden ist alles ein Wunder, und sei es das Allergeringste. Dass der Gläubige zu glauben bereit ist entwertet das Mirakel nicht. Vom Wunder angefasst zu sein ist ihm die Hauptsache: Vor der Träne in seinem eigenen Auge verblasst die Frage, ob die Ikone wirklich geweint hat. Der Pilger ist ein Staunender, der die Welt als Beweis der Allmacht und der Gnade Gottes aufnimmt – wie ein Kind. Diesen Blick gilt es zu kultivieren.