Der Osten – Teil 1

Für mich ist der „Osten“ ein Ort, den es natürlich so gar nicht gibt. Ich erlebe was, ich arbeite mich an Kategorisierungen und Beschreibungen ab, und so erschaffe ich mir einen „Osten“ – als einen Spiegel der Welt, die ich kenne. Als einen Ort der Ressourcen – der Erkenntnisse, Entwicklungen, Tendenzen und Sachverhalte, die ich vielleicht auch „zuhause“, im Eigenen wahrnehmen und verarbeiten könnte, die mir im „Osten“ aber deutlicher vor Augen treten als hier, angesichts seiner Fremdheit und der damit verbundenen Schocks, der meine Wahrnehmung dort fortwährend ausgesetzt ist. Und dann ist er natürlich einen Ort des Neuen, des exotischen Anderen – ein Raum der Wunder.

Der Reisende in den Osten kommt immer als ein Eroberer, aber auch als Pilger. In letzterer Eigenschaft ist er auf der Suche nach dem Ursprung, dem Aufgang – und so ist es auch bei Andrzej Stasiuk, dessen Meditation Der Osten ich gerade lese. Und auch bei mir. Ich habe eine Ahnung, dass Stasiuk in seinen Reisen durch Eurasien dem Anderen, dem asiatisch-russisch „Wilden“ auf der Spur ist, aus dem unsere westliche Zivilisation kommt und gegen das sie sich immer wieder definieren muss: ein östlicher Pol des Ursprungs, figuriert als Raum der Leere und des Nichts, ohne den der zivilisierte Westen nicht sein könnte. In dieser Sichtweise hat die Yin-Yang-Dynamik der zwei Regionen das östliche Europa, und mit ihm auch Kerneuropa, jahrhundertelang geformt und formt es noch.

Das ist die Sichtweise des Eroberers, in Territorien: die Perspektive des clash of civilizations. Der Pilger (und Dichter) sieht etwas Anderes: er bereist und betrachtet den Osten in seiner mythischen Dimension – und das, indem er mithilft, diese aufzuspannen und auszuspinnen. Seine Reise, deren Ursprung eine vage Sehnsucht ist, erschafft letztlich den „Osten“ als einen Raum der Wunder und Offenbarung: „Wonder and revelation, mutual understanding, and new wisdom“ (Mary Louise Pratt). Die Völker und Orte, die wir bereisen, sind sich schließlich selbst genug. Die Begegnung mit ihnen, die Tatsache, dass wir sie ansehen, mit ihnen in Kontakt treten, ihre Erfahrung ermöglicht das Wunder, um dessentwillen (aber ohne mehr als vage Vorstellungen davon zu besitzen) der Pilger die Reise angetreten hat.

An der Seite des Wunders, als sein hässlicher siamesischer Zwilling, steht aber noch ein Zweites, für das ich nur den englischen Begriff incongruity habe. Die deutsche Übersetzung „Unvereinbarkeit“ bringt nicht recht rüber, was ich meine – es geht eher schon in Richtung „Unerhörtes“. Stasiuk muss mir aushelfen. Er erinnert sich an die Erzählungen der Eltern von den Sowjetsoldaten, die am Kriegsende in das Dorf am Fluss kamen: „Meine Mutter hat die Russen 1944 gesehen. Sie waren Marinesoldaten und vertäuten ihre Kanonenboote im Schwemmland des Bug. […] Die Leute verachteten die Russen. Vielleicht nicht gerade die Matrosen, aber die ausgemergelten Infanteriesoldaten, die die Hühner zusammen mit dem Gefieder kochten.“

Das meine ich mit incongruity – den Eindruck des Unerhörten, des „Wie-kann-man-nur“, das Befremden, Abneigung, Ekel, Angst, oder eben Verachtung hervorruft.